Anne Sewcz
_______________________________________________________________________________

Das Spektrum der künstlerischen Interessen und Arbeiten von Anne Sewcz ist weit gefächert und reicht von der Medaillengestaltung über Kleinplastik und lebensgroße Skulpturen bis zur farbigen Grafik. Es gibt uns einen guten Einblick in ihre künstlerische Gesinnung und ihre Art, sich von menschlichen Angelegenheiten berühren zu lassen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Ihre Figuren sind auf eine besondere Weise eindringlich, sie erschließen sich dem Blick und Gefühl des Betrachters langsam, aber mit steigender Intensität. Charakteristisch ist zunächst für sie, daß sie stets einen wohlabgegrenzten Raum einnehmen. Anne Sewcz faßt die Volumen, die raumerfüllende Stofflichkeit der von ihr dargestellten menschlichen Körper und Köpfe so auf, daß sie deren Einheit und Ganzheit, ihre Integrität betonen. Das ist sogar dann der Fall, wenn sie eine Figur aus zwei getrennten Teilen (der Büste und dem unteren Leib) formt, weil sie zwei ganz verschiedene Regungen ausdrücken will, die zugleich als Gegensätze in einem Menschen sein können. Hier wie in allen anderen Plastiken ragt kein Körperteil, kein Glied aus diesem wohlabgegrenzten Raum heraus, will sich verselbständigen oder irgendeine Exaltiertheit im aufgefaßten Gegenstand betonen. Dadurch können die plastischen Formen, die von einem spannenden Verhältnis zwischen Dynamik und Zu-rücknahme, zwischen Bewegung und Ruhe getragen sind, auch ganz als solche Formen genossen und nachvollzogen werden, ohne sich von der Gegenständlichkeit abzulösen. Sie haben einen Mittelpunkt und stehen als Formen zugleich ganz zur Verfügung, eine seelische Befindlichkeit, eine Regung, die diesen ganzen Körper erfüllt oder ein Lebensgefühl, eine intensive Erfahrung auszudrücken. So kommen durch die großen und zugleich in sich ganz einfachen Bewegungen, die Anne Sewcz besonders interessieren, die gleichsam elementaren inneren Bewegungen zur Sprache, die einen Menschen ergreifen können oder zu denen er fähig ist: sich öffnen, sich zusammenziehen, sich anspannen, sich aufbäumen, niedergedrückt sein, angsterfüllt sein und erwartungsvoll sein, mit einem anderen Menschen ganz innig werden, Abschied nehmen, abstürzendes Fallen oder ruhig-besinnliches Lagern.Die Unbeirrbarkeit, mit der Anne Sewcz an den inneren Vorgängen der Menschen Anteil nimmt, mit der sie sie und die Kraft, die sie haben, verstehen möchte, läßt sie nicht ins Formale oder Abstrakt-Gegenstandslose abschweifen. Die Unbeirrbarkeit, den konkreten Menschen als den Ort zu zeigen, an dem die wichtigen Bewegungen und Entscheidungen geschehen, führt zu einer besonderen Verbindlichkeit ihrer Skulpturen. Jeder Betrachter wird als einer angesprochen, in dem jene erwähnten Regungen sein können und jeder kann durch die Betrachtung der Figuren erkennen, wie diese Regungen in ihm selbst sind. Die Wechselwirkung zwischen Raum - das ist Gesellschaft, Zwischenmenschlichkeit, Umwelt - und Körper - das ist der einzelne, in sich dynamische und empfindende Mensch - interessiert sie, sagt die Künstlerin selbst. Wie dringt der Körper in den Raum, wie dringt der Raum in den Körper? Der Fähigkeit von Anne Sewcz, dieses jeweilige Verhältnis sparsam, genau und einfach formulieren zu können, verdanken wir Anrührungen, die in uns nachklingen können und uns unserer Lebendigkeit näherbringen.

Reinhard Linde, 1997

nach oben

Liegende (zweiteilig), 1992-1997, Granit
img032
 Christoph Tannert (1986)